Dierk Seidel

Robinson, ein Freitag, oder Onkel Heiner rennt davon

Es war Freitag, am Abend vor dem obligatorischen Pommes- und Bratwurstessen bei Oma Inge. Onkel Heiner und ich waren gemeinsam bei einer Theaterprobe. Die Laienspielgruppe konnte sich nicht entscheiden, wer welche Rolle bekommt.

„Heute ist Heiner Freitag“, sagte Karl irgendwann bestimmt.

„Wir können doch nicht jede Woche unsere Rollen ändern. Letzte Woche war Rudi noch Freitag“, sagte Petra.

„Das ist sowieso ein rassistisches Stück, wer hat das eigentlich ausgewählt?“, fragte Heiner nun und alle starrten zu Günther.

„Wir können auch etwas anderes machen, ich bin da offen, aber wenn keine Ideen kommen, dann such ich halt was aus“, erwiderte Günther.

„Lass mal gut sein, Günther, ich bin raus, auf so rassistische Stücke habe ich keinen Bock. Außerdem müssen wir ohnehin jetzt zum Pommesessen. Komm, wir gehen.“

Er schmiss mir meine Jacke hin und wir gingen hinaus.

„Onkel Heiner?“

„Nur Heiner, bitte.“

„Ja, wie auch immer. Wer waren diese Leute und warum musste ich unbedingt mit?“

„Das war eine Demonstration. Ich infiltriere Theatergruppen und decke Rassismus auf und weil du auch schreibst, dachte ich, du kannst darüber berichten. Außerdem habe ich auch ein Stück geschrieben. Das geht aber nur in der richtigen Gruppe.“

„Und wovon handelt dein Stück?“

„Von rassistischen Theatergruppen, aber das kommt erst am Ende so richtig raus, der Spiegel, du weißt schon.“

„Onkel Heiner, du redest echt manchmal wirres Zeug. Kannst du nicht einmal etwas Vernünftiges über dich und dein Leben erzählen? Nicht, dass antirassistische Arbeit nicht sinnvoll ist, im Gegenteil, aber ich hatte mir von diesem Abend irgendwie versprochen, dass ich meinen Onkel mal etwas kennenlerne.“

„Na, gut, liebe Nichte, was willst du wissen? Du hast vier Fragen frei.“

„Warum vier?“

„Noch drei Fragen.“

„Was hast du gearbeitet und hast du Familie, Frau, Kinder?“

„Das sind ja quasi schon drei Fragen.“

„Zwei.“

„Wie auch immer. Tja, gearbeitet. Ich habe eigentlich alles gemacht, die meiste Zeit arbeitete ich in einer Kneipe. Sie hieß witzigerweise Bei Heiner.“

Onkel Heiner fing an zu kichern. Nach einer kurzen Pause setzte er wieder an:

„Der Chef hieß auch Heiner und zwei weitere Mitarbeiter auch, nur eine Mitarbeiterin hieß Henriette, aber wir nannten sie meistens Henny. Das waren wunderbare Jahre. Aber die Kneipe ist nun dicht. Von einem Tag auf den anderen war Heiner weg.“

„Welcher Heiner?“

„Pass auf deine Fragen auf.“

„Okay, Frage zurückgezogen.“

„Ansonsten habe ich ein wenig für das Kieler Tageblatt geschrieben, Taxi und Bus bin ich auch gefahren und ich war Herbergsvater in einer Jugendherberge in Eckernförde. Aber das war nichts für mich. Die ganzen Kinder. Was mich zu deiner zweiten Frage führt. Familie. Ich habe euch, das muss reichen. Was willst du noch wissen?“

Ich musste gut überlegen. Je nachdem, wie er rechnete, hatte ich nur noch eine Frage. Dann fiel mir etwas ein.

„Warum bist du nach 39 Jahren kompletter Abwesenheit wieder zurück zu Oma gezogen.“

Onkel Heiner lief plötzlich schneller. Fast so, als rannte er davon. Wir liefen immer weiter und ich kam kaum hinterher. In diesem Teil von Gelsenkirchen kannte ich mich nicht gut aus. Mein Akku war leer. Ich musste dranbleiben.

„Heiner, warte“, rief ich.

Onkel Heiner blieb kurz stehen. Zögerte einen Moment und sagte:

„Du hast Heiner gesagt. Endlich.“

Dann düste er weiter. Er bog rechts in die nächste Straße, ging geradewegs auf ein Büdchen zu und kaufte vier Bier.

„Komm, wir setzen uns da auf die Bank“, sagte er. Als wir saßen, öffnete er zwei Bier und gab mir eines.

„Heineken, 0,4 Liter. Das gibt’s nur hier. Als Jugendliche haben dein Vater und ich hier viel abgehangen. Das 0,4er Bier gab es hier damals schon. Wir haben immer vier gekauft. Eines für deinen Vater, eines für Linda, eines für Rico und eines für mich. Ein Team, eine Band. Meine Lieblingszahl vier.“

„Und warum bist du nach 39 Jahren wieder zurück zu Oma gezogen?“

„Ich bin nicht zu deiner Oma gezogen.“

„Onkel!“

„Nein, wirklich. Ich habe noch meine Wohnung in Kiel. Komm mich mal besuchen.“

„Okay, warum bist du zurückgekommen?“

„Ich habe doch das mit der Kneipe erzählt. Und von Heiner, der weg war. Heiner und ich haben zusammengewohnt. Keine WG. Wir wollten sogar heiraten. Aber wir haben uns verkracht. Und er ist weg und ich wollte nicht mehr allein sein.“

„Onkel Heiner.“

„Nur Heiner, bitte.“

„Tschuldigung, Heiner. Und Linda, die Band, der Rausschmiss?“

„Wie ich sagte, alles, weil ich kein Taktgefühl habe.“

Er öffnete unsere zweiten Biere.

„Auf Linda und die Band“, sagte ich, ohne nachzudenken.

„Auf Heiner“, sagte Heiner.