Dierk Seidel

Über Strohhalme

Ich sitze im Café und blicke mich um. Die Arbeit getan, wichtige formelle Dinge auf später verschoben, versuche ich meine Gedanken zu sortieren. Gestern Abend hatte ich ganz klar einen Text im Kopf. Der Ausgangspunkt war ein Strohhalm. Aber der Text ist weg.

Der Baum draußen vor dem Café wiegt im Wind sanft seine Blätter hin und her. Aus der Musikanlage ertönt eine Band, die mit ihrer Gitarre ein Pfeifen wie von einem Wasserkessel erzeugt. Ich möchte nicht herausfinden, wie diese Band heißt.

Ich trinke ein alkoholfreies Bier. Ich trinke hier eigentlich immer dieses eine alkoholfreie Bier, manchmal einen Cappuccino, dann aber auch mit Kuchen. Ich trinke aus der Flasche. Man würde nie darauf kommen, Bier mit Strohhalm zu trinken. Dabei würde man im weitesten Sinne ja nur Stroh zu Stroh führen. Aber das ist vermutlich zu sehr um die Ecke gedacht.

Wenn etwas gut war, falle ich häufig am Folgetag in ein Grübelloch. Das ist okay, ich komm da wieder raus. Gestern schrieb ich nachmittags einige E-Mails, die ich schon seit Jahren mit mir rumtrug. Und abends stand dann ein Austausch im Onlinestammtisch an. Es war ein guter Abend. An einem bestimmten Zeitpunkt fiel jemand mit der Tür ins Haus und brachte seinen Strohhalm mit. Er nahm ihn wieder mit. Etwas kryptisch, aber das ist so gewollt.

Also ist heute Grübeltag. Ich grüble darüber, was ich alles vorhabe in nächster Zeit, darüber, was mein Körper mit mir vorhat in nächster Zeit und ich grüble darüber, dass in Zeiten von Overthinking in der Sesamstraße doch auch mal ein Grübelmonster auftauchen könnte. Aber vielleicht braucht dieses Monster auch eine eigene Geschichte. Ich grüble über den gestrigen Abend. Denke an Empathie. Ich grüble wieder über Strohhalme.

Wir brauchen alle einen Strohhalm, an den wir uns klammern können, einen Strohhalm, der uns Hoffnung macht. Dazu zählen Freunde, die uns unterstützen. Strohhalme können Partner*innen sein, Familie, Selbsthilfegruppen, wissenschaftliche Forschung und Empathie. Diese Strohhalme schwächeln sicher auch, aber im Idealfall gibt es immer wieder neue. Ein immerwährendes Neugreifen. So bleibt man in Bewegung.

Strohhalme sind wichtig, doch Strohhalme, die einfache Lösungen bei komplexen Themen bieten, können nicht halten. Sie saugen sich mit Wasser voll, weichen auf, man rutscht ab und ertrinkt. Lösungen für komplexe Probleme, sei es bei Krankheiten wie Parkinson oder in politischen Fragen, können nicht einfach sein.

Ich bestelle mir noch ein Getränk und lese das Geschriebene noch einmal durch. Ganz anders als gedacht. Gestern Abend hatte ich einen Text im Kopf. Der Ausgangspunkt war ein Strohhalm. Aber der Text ist weg.