Dierk Seidel

Onkel Heiner und der Joker

Es war früher Nachmittag. Die Pommesteller waren schon abgeräumt und Oma Inge machte ihren Mittagsschlaf. Wir, Mutter Hermine, Vater Helmut, Bruder Felix, Onkel Heiner und ich saßen auf der Terrasse und spielten Rommé. Felix mischte und verteilte die Karten. Als Onkel Heiner sein Blatt in die Hand nahm, zuckte er zusammen und sagte:

„Scheiß Joker!“

„Was ist los? Ein Joker ist doch etwas Gutes“, sagte Mutter. Doch mein Vater mischte sich ein. Er klopfte Heiner auf die Schulter und sagte:

„Lass dir nicht die Spielfreude verderben.“

Heiner nickte und kam im ersten Zug mit 40 Punkten raus. Mein Vater und Onkel Heiner verstanden sich heute überraschend gut. Seit mein Vater Samstag vor einer Woche losgezogen war, um sich um Heiner zu kümmern, und sie beide eine komplette Woche ohne Lebenszeichen verschwunden waren, waren sie heute Vormittag plötzlich zusammen hier bei Oma aufgetaucht. Wir hatten gefragt, aber über die letzte Woche verloren sie kein einziges Wort. Sie kicherten nur ab wie kleine Jungs, die etwas ausgeheckt hatten. Nun legte Onkel Heiner los. Wir wussten, er hatte mindestens noch einen weiteren Joker in der Hand. Es ging Schlag auf Schlag. Runde um Runde. Drei Asse, drei Könige. Immer ein Joker dabei.

„Das ist doch gegen die Regeln. Du kannst doch nicht immer einen Joker einbauen“, sagte Felix.

„Und ob ich das kann. Ich habe die Regeln genauestens studiert. Da brauchst du mir nicht mit irgendwas zu kommen, du Jungspund“, sagte Onkel Heiner.

„Onkel Heiner.“

„Nur Heiner, bitte.“

„Onkel, ich bin 21 Jahre alt und du nennst mich Jungspund.“

„In deinem Alter hatte ich schon auf einem Kreuzfahrtschiff angeheuert und habe tagelang nur das Deck geschrubbt“, sagte Onkel Heiner.

„Deswegen konntest du das mit der Dunstabzugshaube so gut“, sagte ich und lachte. Onkel Heiner grummelte etwas Unverständliches und legte seine letzte Karte ab.

„Ich muss mal telefonieren“, sagte er und ging ins Wohnzimmer. Dort kramte er aus seiner Hemdtasche ein kleines Notizbuch, blätterte ein wenig und wählte dann eine Nummer.

„Ja, moin, hier ist Heiner. Ist Heiner bei dir?“

Wir konnten die Antworten nicht verstehen.

„Vor ein paar Wochen? Sicher? Hat er etwas gesagt, wo er hinwollte? … Das ist doch Quatsch, da lebt Batman, das ist eine Zeichentrickfigur. … Ja, ich komme bald mal wieder vorbei, mach’s gut Hilde.“

Heiner legte auf und kam zurück nach draußen. Wir guckten ihn erwartungsvoll an.

„Das war Hilde, Heiners Mutter. Sie weiß nicht, wo Heiner ist. Sagt, er wollte nach Gotham City.“

„Was will der denn bei Batman? Ist doch Quatsch“, sagte Felix.

„Der will nicht zu Batman, der will zum Joker. Das war ne Botschaft. Er ist noch sauer auf mich“, erwiderte Heiner. Meine Mutter stand auf und blickte in die Runde:

„Heiner, wie immer redest du in Rätseln. Das wird mir zu viel. Und du,“, sie blickte zu meinem Vater, „du spielst auch noch den Mitwisser, statt hier mal Licht ins Dunkel zu bringen, in dieses Rätsel um Heiner und Heiner.“

„Ich habe keine Ahnung“; erwiderte Vater.

„Der mit den Rätseln bei Batman war ja der Riddler und nicht der Joker“, sagte mein Bruder Felix.

„Machst du jetzt einen auf Klugscheißer wie Fabian?“, fragte ich, woraufhin Felix nur zufrieden lächelte. Mutter ging ins Haus und setzte Kaffee und Teewasser auf. Heiner schaute in die Runde, packte die Spielkarten ein und sagte:

„Ihr wollt das wirklich wissen, oder?“

Wir nickten.

„Na, gut. Ich glaube, ich bin so weit. Stellt euch unser Wohnzimmer in Kiel vor. Helle Zweiercouch, Beamer darüber, Leinwand und wunderbare Soundbar. Es ist Freitagabend. Filmabend. Heiner sollte diese Woche den Film aussuchen und dann ging das Theater los.“

Ich hatte das Wohnzimmer genau vor Augen. Onkel Heiner plusterte sich etwas auf und spielte uns theatralisch den Abend vor:

Heiner: „Ich habe hier einen fantastischen Film mitgebracht. Den Joker mit Joaquin Phoenix.“

Onkel Heiner: „Ernsthaft? Ich sag dir was zu dem Film, Heiner. Wenn dir mein Filmgeschmack auch nur einen Funken bedeuten würde, würdest du dich daran erinnern, dass das einer der langweiligsten und vorhersehbarsten Filme war, den ich je gesehen habe. Nur der Film Spurwechsel war noch langweiliger, da bin ich damals eingeschlafen. Beim Joker wäre ich fast aus dem Kinosaal gegangen, aber ich hatte aus Versehen so einen Special-Sitz gebucht. Der kam noch nicht einmal zum Einsatz, weil dieser Film keine wirklichen Spezialeffekte hatte. Eine große Verschwendung an Lebenszeit war das und das solltest du wissen. Ich habe dir das damals erzählt.“

Heiner: „Man kann dem Film doch nochmal eine Chance geben, der Hauptdarsteller spielt unglaublich gut. Das ist der Wahnsinn.“

Onkel Heiner: Ein guter Schauspieler kann zwar einiges retten, aber doch kein schlechtes Drehbuch zu einem Highlight machen, so dass es sich lohnt, einen schlechten Film zweimal zu schauen. Der Film ist ein ganz schlechter Abklatsch von Taxi Driver.“

Heiner: „Es ist trotzdem ein guter Film, meines Erachtens eine Wahnsinnscharakterstudie, lass den schauen, bald kommt der zweite Teil.“

Onkel Heiner: „Ja, merkst du nicht, dass dir die Argumente ausgehen und die Erwartung auf einen zweiten Teil macht es doch nicht besser. Es wird ein Musical. Kann doch gleich von Disney produziert werden. Der Joker gespielt von einem Zeichentrickdackel.“

Heiner: „Heiner, das ist nun wirklich unfair. Jeder von uns sucht im Wechsel Filme aus, die wir gut finden. Warum machst du mir das so kaputt?“

Onkel Heiner: „Ich habe das Gefühl, es läuft genau andersherum. Du kommst hier mit einem Film an, bei dem du genau wissen solltest, dass ich ihn nicht gut finde. Was soll das?“

Heiner: „Man kann ja auch mal seine Meinung ändern. Du findest ja auch schließlich The Batman gut.“

Onkel Heiner: „Jetzt fang mir nicht an, Batman mit dem Joker zu vergleichen. Das geht gar nicht.“

Heiner: „Das ist einfach ne Detektivstory mit einem Emo-Bruce Wayne und ohne Batman würde sich nichts an der Handlung ändern, Batman macht doch nichts. Der Joker ist unterhaltsam und zeigt die grausame Seite der Menschen. Batman hingegen läuft einfach nur in Tatorte rein und macht Dinge kaputt.“

Onkel Heiner: „Heiner, es reicht, erst bringst du den Joker mit und dann willst du mir Batman madig machen. Sag doch gleich, dass du dich trennen willst.“

Heiner: „Bitte, was?“

Onkel Heiner: „Ja, ist doch wahr, diese ganze Scheiße, die du hier abziehst, es reicht mir, ich gehe.“

„Und dann bin ich gegangen und war die halbe Nacht vor Wut spazieren. Als ich zurückkam, lag ein Zettel auf dem Küchentisch. – Ich bin jetzt auch weg. Such nicht nach mir, es reicht mir, die Kneipe bleibt auch dicht, untersteh dich, die aufzumachen – Das war vor einigen Monaten. Nun bin ich hier bei euch.“

Meine Mutter rief von innen:

„Kaffee ist fertig. Kommt rein. Oma ist auch schon unten.“

Keiner bewegte sich, nur Heiner wollte aufstehen.

„Stopp“, sagte Felix, „du bleibst schön hier. Erst kommst du mit so einer Geschichte und dann einfach Kaffeetrinken, als wäre nichts gewesen?“

Mein Vater nickte und sagte:

„Heiner, wegen des Jokers und Batman? Ernsthaft?“

„Wie, ich denke, du wusstest von allem? Was habt ihr denn die ganze letzte Woche gemacht?“, fragte ich.

„Das ist eine andere Geschichte“, sagten Heiner und Vater wie aus einem Mund und kicherten wieder sehr dämlich. Nach kurzer Zeit wurde die Stimmung wieder ernst.

„Kommt ihr jetzt rein? Die Getränke werden kalt“, rief Mutter.

Felix ergriff wieder das Wort:

„Ich bin ja nur so ein Jungspund, aber Onkel Heiner, diesmal hast du dich echt bescheuert verhalten. The Batman ist ein starker Film, und dennoch hat dein Heiner aus Kiel recht. Und selbst wenn nicht, sich so aufzuregen wegen eines Films, das ist doch absurd. Und jetzt nenn mir mal eine Sache an The Batman, die wirklich gut ist.“

„Der Soundtrack, der Nirvana Song“, antwortete Onkel Heiner kleinlaut.

„Das war rhetorisch gemeint“; erwiderte Felix.

„Welcher Song?“; fragte mein Vater.

„Something in the way, aber ist doch eigentlich egal, ist eh alles egal, keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht. Heiner fehlt mir.“

„Guter Song“, sagte mein Vater.

Ich musste irgendetwas sagen, ich hatte bisher kaum etwas gesagt und dann sagte ich es:

„Wir fahren jetzt alle nach Kiel, Heiner suchen!“

Und dann fuhren wir nach Kiel.